Es fing damit an, dass immer häufiger Menschen zu mir kamen, die sagten, ich pflege jetzt meine Mutter oder meinen Vater – aber es geht mir nicht gut dabei.
Was das Thema Kriegskinder und Kriegsenkel mit Elternpflege zu tun hat und warum die Schatten des zweiten Weltkrieges unser Zusammenleben bis heute beeinflussen, habe ich hier beschrieben.
Ich fühle mich gar nicht als Kriegsenkel. Oder doch?
Ich hatte das 2004 erschienene Buch „Die vergessene Generation“ von Sabine Bode mit großem Interesse gelesen. Menschen, die den Krieg nicht als Erwachsene, sondern als Kinder erlebt hatten, waren als alte Menschen viel fragiler als die vorangegangene Generation. In der Pflege – besonders in der Pflege von Menschen mit Demenz musste die Biografiearbeit angepasst werden.
In den Pflegeeinrichtungen lebten immer weniger Männer und Frauen der Geburtsjahrgänge bis 1925, deren traumatische Erfahrungen aus bewusst erlebten Kriegshandlungen herrührten. Menschen, die als Erwachsene den Krieg mit seinen Schrecken und seinen Gräueltaten erlebt hatten, hatten ihre Erlebnisse zumeist in Erzählungen „verpackt“, mit denen sie gut umgehen konnten. Bei meinen Großeltern waren das zumeist lustige Geschichten. Andere konnten immer wieder von ihrer Verzweiflung erzählen, Hunger, Ungewissheit, Bombenangriffe und Kriegsgefangenschaft. Bei den Kriegs-Kindern war das anders. Ihre Erfahrungen waren oft implizit, nicht durch eigene Worte ausdrückbar.
Im Sommer 2013 erschien das Nachfolgebuch Bodes mit dem Titel „Kriegsenkel“. Und ich habe es erst einmal NICHT gelesen. Ich fühlte mich damals einfach nicht als Kriegsenkelin. Mein Gott, dachte ich, als ich 1963 geboren wurde, war der Krieg fast 20 Jahre vorbei. Was, bitte, sollte ich mit diesem Krieg zu tun haben.
Ich war damals gerade 40 Jahre alt, unsere 3 Kinder waren „aus dem Gröbsten raus“, ich war erfolgreich in meine Selbstständigkeit als Demenzberaterin gestartet, hatte einen Verein gegründet und ein bundesweit beachtetes Projekt gestartet. Ich wollte jetzt nicht auch noch Kriegsenkelin sein.
Am Ende war es ein anderes Buch, das mich für das Thema Kriegsenkel sensibilisierte. „Die geprügelte Generation: Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen | Ein eindringlicher Bericht aus den Kinderzimmern der Fünfziger- und Sechzigerjahre“ von Ingrid Müller-Münch.
(Und im Übrigen schrieben wir das Jahr 23 nach der Wiedervereinigung Deutschlands und es waren noch so viele Wunden zu heilen – selbst heute weitere 10 Jahre später ist die Teilung noch spürbar.)

Was die Kriegskinder so besonders macht
Zu den Kriegskindern rechnet man in Deutschland im Allgemeinen die Menschen, die zwischen 1928/29 (also maximal 16jährige bei Kriegsende) und 1946 geborene Menschen. Lange Zeit herrschte die Auffassung, dass Kinder vom Krieg doch nicht so viel mitbekommen hätten. Vor allem die 1940-46er Jahrgänge waren ja noch viel zu klein um zu verstehen.
Der Psychoanalytiker und Altersforscher Hartmut Radebold, den ich 2019 noch einmal auf dem Kongress „Die langen Schatten der Vergangenheit“ in Hannover erleben durfte, schätzte, dass 30 Prozent der Kinder von damals akut traumatisiert waren, weitere 30 Prozent zumindest teilweise und nur 40 Prozent der Kinder unbeeinträchtigt aufwuchsen. Und tatsächlich kann solch eine Traumaitiserung jahrzentelang unentdeckt in einem Menschen vorhanden sein, bis die Demenz die alten Wunden wieder ans Tageslicht bringt. Naomi Feil glaubt sogar, dass die Demenz eine Gelegenheit sei, das Verdrängte noch einmal zu bearbeiten.
Die lustigen Geschichten, die im Hause meiner Großeltern bei Zusammenkünften in gemütlicher Runde gern erzählt wurden, handelten beispielsweise von einquartierten russischen Offizieren, die im Alkoholrausch einen Schrank mit Porzellan umwarfen. Als Wiedergutmachung durfte meine damals 5-jährige Mutter gemeinsam mit dem kleinen Bruder fortan mit dem Blechtöpfchen zur Essensausgabe der Soldaten gehen und eine Mahlzeit für die kleine Familie, deren Vater zu dem Zeitpunkt in russischer Gefangenschaft war, abholen.
Erst als die Demenz meiner Mutter begann, erfuhr ich den anderen Teil der Geschichte. Die Soldaten hatten sich so manches Mal einen Spaß daraus gemacht, den Kindern das Maschinengewehr an den Kopf zu halten und ihre Todesängste ausgekostet. Über 70 Jahre hatte meine Mutter gebraucht, um dieser Situation Worte zu geben. Andere Geschichten handelten davon, wie ihre Mutter sie „als Schutzschild“ mit auf Besorgungen nahm, wenn sie selbst Angst vor den russischen Soldaten hatte. Oder von der völlig verwirrten Tante, die sie bei sich aufnahmen, weil sie ihren kleinen Sohn und ihre Wohnung beim Bombenangriff auf Cottbus verloren hatte.
Der Unterschied der Traumata der Kriegskinder zu Traumata, die Menschen heute geschehen, ist dass die traumatisierenden Ereignisse heute in der Regel einmal und kurzfristig auftreten und Schutz und Hilfe schnell zur Verfügung steht. Anders bei Traumata in Kriegszeiten.
Es wurde völlig unterschätzt, wie viel Kinder erlebten und „mitbekamen“ (ja selbst die ganz kleinen und auch die noch ungeborenen!). Im Durchschnitt, so sagt Radebold, erlebten Kinder 3 – 4 traumatische Ereignisse und wurden dabei oft mit ihren Gefühlen allein gelassen. Woher auch sollte Hilfe kommen in einer Zeit, da Überleben das Allerwichtigste war und die Erwachsenen selbst psychisch beschädigt waren?
Den Kindern blieb oft nichts anderes übrig, als all die Ängste, Trauer und Wut tief in sich selbst zu verschließen und beim Überleben, Wiederaufbauen und irgendwie Weitermachen zu funktionieren. Und zu vergessen.
Erleben sich diese Menschen im Alter weniger stark, sei es körperlich, kognitiv oder sozial, dann kann das Gefühl der Hilflosigkeit völlig unerwartet Re-Traumatisierungen auslösen. Ein Sturz, der Diebstahl der Geldbörse oder gar ein Einbruch werden zum Triggger für eine Trauma-Reaktivierung. Das Unbewusste ist zeitlos. Der Schrecken ist wieder JETZT.

Und was ist nun mit den Kriegsenkeln?
Eine Teilnehmerin an einem Gesprächsabend für Kriegsenkel, den ich gemeinsam mit der Evangelischen Erwaschsenenbildung organisiert hatte, nannte es sehr bildhaft „Kindheit auf Zehenspitzen“.
Als die Kriegskinder selbst Eltern wurden, hatten viele von ihnen den Kontakt zu ihren eigenen Gefühlen verloren. Mein Vater flüchtete zu anderen Frauen, meine Mutter in die Depression. Nach außen war die Welt in Ordnung. Auch bei unseren Nachbarn in der Neubausiedlung.
Kindheit auf Zehenspitzen meint, dass viele von uns schon als Kinder sensibilisiert waren für die Bedürfnisse der Eltern. Und wir wollten, dass es ihnen gut geht. Schließlich sind Kinder darauf angewiesen, dass es den Eltern gut geht! Heute nennt die Sozialwissenschaft diese Umkehr von Fürsorge Parentifizierung. Die Rollenumkehr hat Folgen für beide Seiten. Das Kind nimmt (unbewusst!) den Eltern die Verantwortung ab (oder weg) und überfordert sich selbst damit.
Wir alle wuchsen zudem mit Sätzen auf, die uns Dankbarkeit, wofür auch immer, einbläuten und uns daran erinnerten, wie gut es wir doch hatten, weil es all das früher eben nicht gegeben hatte und man froh war, wenn man irgendwelches altes Zeug zum Spielen und grauseligen Kohl zu essen hatte.
Wir sollten es mal besser haben, versprachen die Eltern und meinten damit materielle Dinge oder Bildung. An kuschelige Momente mit meinen Eltern kann ich mich erinnern – aber auch daran, dass sie selten waren. Gefühle hatten keinen Platz, ebensowenig wie Gespräche über das, was uns Kinder wichtig gewesen wäre.
Weiß man, dass das Standartwerk der Kindererziehung der Nazizeit, Johanna Haarers Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ im Westen Deutschland (mit leicht verändertem Titel) bis in die 1980er Jahre verlegt wurde und auch im Osten die Erziehungsratgeber prägte, weiß man, dass auch an dieser Stelle der Krieg noch lange nicht vorbei war.

Demenz und Pflege: Rollentausch forever?
Gerade Söhne und Töchter, die in der eigenen Kindheit aufgefordert wurden oder sich verpflichtet fühlten, „Eltern-Funktion“ gegenüber Vater und/oder Mutter wahrzunehmen, sitzen dann bei mir in der Beratung und sagen: Ich mache das jetzt, ich pflege jetzt meine Mutter oder meinen Vater, aber ich mache das nicht gerne. Und übrigens, wir hatten nie so ein gutes Verhältnis.
Viele von ihnen hatten viele Jahre lang den Kontakt abgebrochen oder reduziert. Die beginnende Demenz oder Pflegebedürftigkeit des Elternteils ist dann der „Weckruf“, der die Verbindung wieder intensiviert.
Ich bin immer wieder berührt, wenn ich sehe, mit welchem Eifer eben diese Töchter und Söhne ihre Eltern unterstützen, oft mit einem Engagement, das weit über ihre Kräfte geht. Es berührt mich deshalb, weil ich das auch von mir selbst kenne und weil ich weiß, wie schwer es ist, aus dieser Verhaltensweise wieder herauszukommen und eine gesunde Balance von Unterstützung der hilfebedürftigen Angehörigen und der eigenen Selbstsorge zu finden. Schließlich haben wir das schon als Kinder nicht gelernt.
„Meine Mutter sucht jetzt immer meine Nähe und Berührungen, das hat es früher bei uns nicht gegeben. Ich kann das einfach nicht!“ Bei Frau D. war dabei gleichzeitig eine uralte Traurigkeit zu spüren, dass sie selbst diese Nähe und Wärme in ihrer Kindheit so vermisst hatte.

Kriegsenkel im Coaching
Im Coaching wählte Frau D. eine Karte, die ein Kind stolz neben einem aufgetürmten Laubhaufen zeigt. (Aus Gründen des Urheberschutzes muss ich anstelle des eigentlichen Motives aus der Bildkartei des Zürcher Ressourenmanagements hier ein Symbolbild zeigen.)
„Ich wollte so gerne, dass sie mal stolz auf mich ist!“ sagte Frau D. Auch heute, als über 60jährige, hat sie bei vielem, was sie tut den Gedanken im Hinterkopf, was ihre Mutter wohl sagen würde. Die Liste, die sie anfertigt, worauf ihre Mutter stolz sein könnte, wird lang. Der Studienabschluss als Jahrgangsbeste, die berufliche Karriere, die sie in eine hohe Führungsposition einer Großbank brachte, das Haus, das sie stilvoll eingerichtet hat. „Das einzige, womit ich es ihr wirklich recht gemacht habe, ist unser Sohn.“ Großmutter und Enkel haben eine sehr liebevolle Beziehung zueinander. „Plötzlich konnte sie so lieb sein!“
Ich frage Frau D. wie sie selbst all ihre Erfolge gefeiert hat. Nun ja, dafür war wenig Zeit, immer musste schon die nächste Aufgabe bewältigt werden. Auch das ist typisch für Kriegsenkel. Sie funktionieren und erlauben sich wenig Freude. Eine Aufgabe bestand für Frau D. nun aus dem nachträglichen Feiern ihrer Erfolge. Zur „Laubhaufenfeier“, wie sie es nannte, war auch ihre Mutter eingeladen. Dass die Mutter sich mit ihr gefreut hat, hat Frau D. weicher gemacht. „Ich kann jetzt gerade wieder mehr Nähe zulassen“ sagt sie.
Und ich selbst? Ich habe erst beim Ausräumen der Wohnung meiner Mutter, als sie ins Pflegeheim zog, einen alten Zettel gefunden, auf dem stand, wie stolz sie auf ihre Kinder wäre. Was hätte alles passieren können, wenn sie es uns auch gesagt hätte?
Umso wichtiger ist es mir, dass unsere Kinder, die dann wohl mal die „Kriegs-Urenkel“ heißen müssten, frei entscheiden können, auf welche Weise sie die Beziehung pflegen. Natürlich wünsche ich mir, dass sie kommen. Aber sie sollen sich nicht verpflichtet fühlen.
Ach, ich merke, das ist schon wieder Stoff für einen neuen Blogartikel …
Angeregt zu diesem Artikel hat mich Iris Wangermann mit ihrer Blogparade. Vielen Dank dafür.
Hinterlasse gern einen Kommentar, wenn Du auch Kriegsenkel*in bist. Wir sind viele. Wir dürfen unseren Schmerz heilen.
Pflegezeit ist Lebenszeit.
Ihre Demenzberaterin

Ja, ich bin auch Kriegsenkel und meine Mutter ist schon 2020 gestorben, mein Vater lebt noch. Er hat 2 jüngere Schwestern die beide Dement sind. Bei Ihm hält es sich noch in Grenzen 😅
Vielen Dank für diesen sehr lehrreichen Artikel.
Liebe Martina, vielen Dank für Deine Rückmeldung. Alles Gute für Dich