Allein leben trotz Demenz – und unabhängig bleiben so gut es geht. Ich hatte an dieser Stelle einen Blogartikel darüber geplant, wie Menschen trotz Demenz gut allein zu Hause leben können. Schließlich ist das einer meiner Schwerpunkte in der Beratung.

Doch dann hatte ich die Idee, Lieselotte Klotz dazu ein paar kurze Fragen zu stellen. Herausgekommen ist ein einstündiges, herzliches Telefonat mit so wunderbaren Gedanken und Inspirationen, dass ich den begonnen Artikel auf später verschieben werde. Ich freue mich, dass ich Dir hier so viele ermutigende Gedanken aus Sicht einer Betroffenen mitteilen darf.

 

Von der Demenz-Betroffenen zur Dementia Leaderin

Kennengelernt habe ich Lilo, die als selbst Betroffene Mitglied Beirat „Leben mit Demenz“ der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. ist, im Frühjahr auf einem Online-Kongress zum Thema Technik-Unterstützung für Menschen mit Demenz.

Lilo ist heute 63 Jahre alt und lebt seit 2017 mit einer Demenz-Diagnose. Sie ist eine – darf ich das mal so sagen? – typische Vertreterin der jungen Menschen mit einer Demenz-Diagnose. Selbst die offizielle Statistik der Deutschen Alzheimer Gesellschaft erfasste viele Jahre nur die Erkrankten ab 65 Jahre. Heute ahnt man (anhand europäischer Statistiken, die für Deutschland angepasst werden), dass hierzulande etwa 100.000 Menschen unter 65 Jahren mit der Diagnose Demenz leben.

Was Lilo so besonders macht, ist (unter anderem) ihr offener Umgang mit der Krankheit und ihr gesellschaftliches Engagment. 

Kriegskinder - eingefrorene Gefühle

Radikale Akzeptanz

E. H.: Lilo, welche Gedanken und Emotionen gehen Dir seit der Diagnose durch den Kopf?

„Die Diagnose Demenz hat meine komplette Lebenswelt verändert. Ich war selbstständige Unternehmerin im IT-Bereich. Es war eine komplette Rasur meiner Säulen, auf denen mein Leben stand. Beruflich und privat ging es bergab. Und es gab danach Zeiten mit Depression und Frust.

Was mich aus diesem Tief herausgeholt hat, war Radikale Akzeptanz. Und Unterstützung da, wo ich sie erst mal gar nicht erwartet hatte: in der Alzheimer Gesellschaft. Heute bin ich selbst wieder auf vielen Ebenen aktiv, auch politisch und in der Alzheimer Gesellschaft.“

E.H.: Radikale Akzeptanz ist ein starker Begriff. Kannst Du mir mehr darüber erzählen, wie Dir diese Einstellung gelungen ist?

„Radikale Akzeptanz ist für mich eine Methode, mich mit den Dingen, die mich im Leben ereilen – seien es gut oder schlechte – von innen oder von außen – auseinanderzusetzen. Es bedeutet, die wesentlichen Elemente zu akzeptieren und nicht zu bekämpfen.

Ich sage mir immer: Ich habe die Wahl! Das ist meine Eigenmotivation. Ich kann mir meinen Tag zu einem nicht so guten Tag generieren – oder eben zu einem guten Tag machen.“

Kriegsenkel - Kindheit auf Zehenspitzen

Es gibt nicht nur gute Tage – aber immer eine Wahl

E. H.: Welche Dinge oder Aktivitäten helfen Dir dabei, positiv zu bleiben und mit der Diagnose umzugehen?

„Manchmal merke ich schon am Morgen: Heute wird es wieder schlimm mit den Halluzinationen. Dann ist das für mich der „Tag des Sofas“. Da gehe ich nirgendwohin. Dann mache ich es mir zu Hause so schön es geht. Dann muss ich nicht aktiv sein und mich unter Druck setzen. So lebe ich das. Man muss bereit sein, sich selbst ins Gesicht und in die Seele zu sehen.

Es gibt auch Tage, wo das nicht funktioniert. In der Zeit, als ich meine Mutter gepflegt habe, habe ich gelernt, um Hilfe zu fragen und Hilfe anzunehmen. Das hilft mir heute.

Ich bin immer noch Lilo! Nur die etwas weichere Seite ist jetzt nach vorne getreten. Früher in meinem Beruf als Unternehmerin in der IT, da war die harte, männliche Seite gefragt. Das ist heute nicht mehr so.“

E.H.: Ich habe Dich durch einen Online-Vortrag kennengelernt, in dem Du über Deine Erfahrungen mit dem virtuellen Sprachassistent Alexa berichtet hast. Bitte erzähle den Leser*innen, wie Du technische Hilfsmittel im Alltag nutzt, um Deine Lebensqualität und Alltagsstruktur selbstbestimmt zu erhalten.

„Ja, ich nutze Alexa zu Hause und Siri zu Hause und unterwegs, ich nutze ganz vielfältige Tools. Unterwegs nutze ich GPS, damit finde ich mich zurecht. Mein Terminkalender und meine persönliche Organisation werden von meinen Kindern unterstützt von „A“ wie Aufgaben über Medikamente bis hin zu den Terminen und „Z“ wie Ziele. Was nicht im Kalender steht, existiert für mich nicht. Das Handy in der Hand ist mein zusätzlicher Anteil an Wissen.

Ich arbeite auch in der European Working Group People with Dementia, da nutze ich Tools für die Übersetzungen. Auch wenn ich Vorträge halten will, so wie demnächst auf dem Kongress in Helsinki. Chat GPT, was jetzt so oft in den Medien ist, nutze ich schon sehr lange. Ich gebe da meine Gedanken ein als Keywords (Schlüsselwörter) und die Software formuliert einen Text vor. So kann ich meine Gedanken immer noch in Texte fassen, je nach Bedarf wissenschaftlich, emotional oder moralisch. Das ermöglicht mir weiterhin Texte zu schreiben. Das geht nur durch technische Unterstützung.

Ja, ich bin sehr immer sehr technikaffin, das macht mir Spaß. Ich habe tatsächlich nur zwei Hobbys: Technik und Segeln. Und auch beim Segeln unterstützt mich die Technologie. Sonst könnte ich auch das nicht mehr machen.“

Kriegsenkel - Rollentausch forever

Wir brauchen eine bessere Beratung und neue Rollenbilder

E. H.: Du bist eine Vorreiterin. Du gibst der gesellschaftlichen Vorstellung, wie Menschen mit Demenz sind, ein neues Gesicht. Vielleicht können hochaltrige Menschen mit Demenz nicht so gut mit Technik umgehen, aber die jüngere Generation ist anders. Darauf wird man sich im Gesundheitswesen und in den Pflegeeinrichtungen einstellen müssen. Ich kenne einen Mann, der wollte nicht in die Kurzzeitpflege gehen, weil es dort für ihn kein WLAN gab.

„Menschen im Gesundheitswesen sind meiner Ansicht nach sehr wenig technikaffin. Der Spaßfaktor der Technologie ist dort noch nicht angekommen. Das ist schade. Und das muss sich ändern.

Ich habe 30 Jahre nicht anderes gemacht. Ich habe nicht gestrickt und nicht gekocht. Ich war immer vernetzt. Ich habe immer das Neueste ausprobiert. Ich weiß, die Krankheit ist nicht heilbar, für mich geht es um die nächste Generation (der Erkrankten). Da kommt was auf uns zu. Es ist wichtig, dass wir uns darauf einstellen. Und dafür gebe ich meine Erfahrung weiter.

Menschen, die die Diagnose Demenz erhalten, brauchen Organisationen, die sie unterstützten oder qualifizierte Fachleute, so wie Dich. Fachleute außerhalb des klassischen Arztwesens.

Ärzte habe ich nicht als sehr hilfreich erlebt. Sie haben weder die Möglichkeiten noch die Fähigkeiten für lange Gespräche. Das Wissen darüber, was außerhalb der Therapie hilft, ist beschränkt. Hilfreich sind Selbsthilfegruppen für Betroffene. Da hatte ich zu Anfang keine. Aber jetzt bin ich seit 2021 im Beirat „Leben mit Demenz“ der deutschen Alzheimer Gesellschaft.

Wichtig ist das Heraustreten aus der Isolation. Man braucht Hilfe für das eigene Leben und die eigene Lebensqualität. Man muss sich sagen können:

Ich kann noch was! Ich will noch was!

Wünschenswert aus meiner Sicht wäre das auch zu Beginn einer Demenz, wo man noch eine gesellschaftskompatible Arbeit oder eine berufliche Komponente haben könnte. Doch in den Unternehmen fehlt das Wissen und die Bereitschaft Menschen mit Demenz zu halten und zu integrieren. Und in den Arbeitsämtern fehlt dafür noch die Kompetenz diesbezüglich zu vermitteln.“

Kriegsenkel - es darf leichter werden

Mut und Ermutigung, den eigenen Weg trotz Demenz zu gehen

E. H.: Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen brauchen sehr viel Ermutigung. Wir alle brauchen im Bereich Demenz noch viel mehr positive Vorbilder, Menschen, die mit und trotz Demenz ihre Selbstbestimmung und ihre Unabhängigkeit bewahren. Welche Ratschläge oder Tipps würdest Du anderen Personen geben, die ebenfalls eine Demenzdiagnose erhalten haben?

„Ich gebe da lieber keine Ratschläge, aber ich kann von meinen Erfahrungen berichten:

Vielschichtig neugierig bleiben! Dann ist noch eine Menge möglich.

Es hängt mit der Biografie zusammen, ich versuche meine eigenen Kompetenzen zu erhalten, ich kämpfe darum, im Leben zu bleiben.“

E. H.: Lilo, ich könnte Dir stundenlang zuhören. Am liebsten würde ich aus Deinen Erzählungen ein Buch drucken!

„Wenn Du mich fragst, was habe ich gerade gesagt, das könnte ich nicht wiederholen. Das fließt so raus. Das ist, was da ist. Einfach fließen lassen. Es geht um den Funken der Hoffnung, den möchte ich Menschen mit Frühdemenz vermitteln. Ich möchte ihnen sagen: Hey, heb deinen Popo. 

Ich will nicht den Fakt der Krankheit ignorieren. Das Mut machen ist das, was mich beflügelt. Das ist auch keine Einbahnstraße. Ich bekomme etwas zurück. Das Gefühl: Ich kann noch was leisten. Das ist, was mir guttut.

Anderen Menschen durch meine Offenheit, durch ein nettes Wort, durch kleine Dinge Mut machen. Und demnächst machen wir diese Bademantel-Challenge, das ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema. Menschen mit Demenz im Bademantel an allen (un)möglichen Orten, beim Einkauf, im Rathaus, auf dem Flughafen, an Bahnhöfen.  Da mache ich mit. Da gebe ich dann meine Statements.“

Gibt es bestimmte Ziele oder Wünsche, die Du persönlich noch erreichen möchtest?

„Jeden Tag mit schönen Dingen verbringen! Und meine Kompetenz erhalten so gut es geht. Jedes Jahr schaue ich mit meinen Kindern: Wo stehe ich jetzt? Wie kann ich die Verluste integrieren? Was machen wir jetzt? Wie machen wir es im kommenden Jahr?

Ich habe ja sozusagen ein Ablaufdatum. Dafür brauche ich meine Radikale Akzeptanz. Das Dazwischen so gut wie möglich zu leben!

Ich stelle mir vor: Das Leben ist wie ein Museum. Wenn man mit wachsendem Alter darin herumgehen kann und sich die schönen Erinnerungen ansehen kann, dann ist das gut.“

Liebe Lilo, ich danke Dir für Deine Offenheit und diesen berührenden Einblick in Deine Lebenswelt. Du hast mir und vermutlich auch den Leserinnen meines Blogs, selbst Betroffenen, wie auch Angehörigen, damit ein riesengroßes Geschenk gemacht. Ich wünsche Dir viel Erfolg auf dem Kongress in Helsinki und bei dem Fachtag in Witten, den ich hier gern verlinke. Außerdem immer gutes Wetter zum Segeln und noch viele schöne Erlebnisse für Dein Lebensmuseum. Danke!

Wenn Du Lilo in den sozialen Medien folgen willst, dann findest Du sie auf Facebook und auf Instagram.

 

Pflegezeit ist Lebenszeit.

Ihre Demenzberaterin

Demenzberaterin Eva Helms