Alzheimer – der lange Abschied. Oder gar Abschied zu Lebzeiten. Solche drastischen Aussagen, Überschriften oder Buchtitel begegnen mir in meiner Beschäftigung mit dem Thema Demenz. Als Tochter einer an Demenz erkrankten Mutter verstehe ich, was mit diesen Aussagen gemeint ist. Gleichwohl möchte ich das nicht so stehen lassen. Ich möchte den Blick wieder weiten.

Hat nicht jedes Ding zwei Seiten? Leben strebt immer nach Balance. Und Balance ist nicht Stillstand. Denken Sie an die Seiltänzerin, die ihr Gleichgewicht auf dem Seil, egal in welcher Höhe, immer wieder mit kleinen aber wirkungsvollen Bewegungen austariert. Als lösungsorientierte Coachin habe ich auch diesen Grundsatz verinnerlicht: Kommt ein Element im System in Bewegung, müssen sich – wie in einem Mobile – alle anderen Elemente mit bewegen.

Oder wie der Religionsphilosoph Martin Buber, der den personzentrierten Ansatz maßgeblich beeinflusste, sagte: „Der Mensch wird am Du zum Ich“.  Anders gesagt, unser Umgang mit den Menschen in unserer Umgebung, unsere Sozialkomeptenz ist erweiterbar. Wir können beeinflussen, wer wir sein werden. Auch als Pflegende. Als Menschen sowieso. Dann ist Demenz mehr als Abschiednehmen.

Demenz – Abschied von Perfektion

Fernsehen, Zeitschriften, Werbung und soziale Medien suggerieren uns, dass Perfektion möglich sei. Unser Bewusstsein verdrängt, dass es sich bei den elegant oder auf „Hygge“ gestylten Fotos um Momentaufnahmen handelt, Räume in denen kein Mensch wohnt.

Jugendlich wirkende Karrierefrauen, die berufliches Engagement, Gesundheitsvorsorge und Familienmanagement lächelnd verbinden, strahlen in die Kamera.

Die perfekte Familie, die die richtigen Produkte – welche auch immer – gekauft hat, ist ebenso unrealistisch, wie das sportliche Best-Ager-Paar, das dank der richtigen Sparanlagen glücklich bis an sein Lebensende auf Meer schaut.

Trotzdem machen diese Bilder etwas mit uns. Wir wollen das auch, diese Geborgenheit, diese mühelose Kompetenz, diese heile Familie, in der alle glücklich sind.

An meinem Kühlschrank klebt ein Magnet mit der Aufschrift: „Hab keine Angst vor Perfektion. Du wirst sie nie erreichen!“ als Erinnerung daran, dass das Leben gar keine Perfektion zulässt. Weil es ja auch gar keinen Stillstand will.

Leben aus vollem Herzen

Mein Ziel heißt Leben aus vollem Herzen. Dafür brauche ich keine Perfektion. Zu einem Leben aus vollem Herzen gehören für mich Mut und Mitgefühl.

Mut, den Ereignissen des Tages zu begegenen und Vertrauen darauf, dass ich die Herausforderungen, die das Leben bereithält, bewältigen werde. Es wird nicht leicht sein, aber es wird sich lohnen.

Mitgefühl mit mir selbst und mit anderen, wenn Perfektion in weite Ferne rückt, wenn Pläne zu Bruch gehen und wenn ich mit meiner eigenen Ungeduld und  Verletzlichkeit konfrontiert werde.

Die amerikanische Forscherin, Geschichtenerzählerin und Autorin Brené Brown schreibt in ihrem Buch Die Gaben der Unvollkommenheit:

Die Wurzel des englischen Wortes für Mut, courage, ist cor – die lateinische Bezeichnung für Herz. In einer seiner frühesten Formen wurde courage bzw. Mut also ganz anders definiert, als es heutzutage der Fall ist. Ursprünglich bedeutete es offen zu sagen, was man denkt, indem man ausspricht, was einem auf dem Herzen liegt. Im Laufe der Zeit hat sich diese Definition verändert; heute bedeutet sie eher sich heldenhaft verhalten.

Es geht um den ganz gewöhnlichen Mut im Alltag. Sie müssen nicht vom 10-Meter-Brett springen (auch wenn sich manche Situationen so anfühlen), sie müssen keine Löwen dressieren und auch keine Besteigung des Mont Everest planen.

Leben aus vollem Herzen kann heißen: Egal, was ich heute von meiner To-Do-Liste erledige und egal, wieviel liegenbleibt, ich bin genug.

Egal, was der demenzkranke Angehörige heute wieder getan oder eben nicht getan hat, er hat sein Bestes gegeben.

Doch ich will Ihnen nichts vormachen. Abschied vom Perfektionismus und Leben aus vollem Herzen sind keine Entscheidungen, die man ein für alle Mal treffen kann.

Man trifft sie immer wieder neu, verheddert sich in eigenen Ansprüchen, vergisst gute Vorsätze. Das ist das Leben! Mein Wunsch für Sie ist, in diesen Situationen Mitgefühl mit sich selbst zu haben.

So wie ich gerade mit mir, weil mir – nachdem ich vier Tage an diesem Artikel gesessen habe – klar geworden ist, er muss aus dem Herzen kommen – aber nicht perfekt sein.

 

Demenz – Abschied vom Gewohnten

Es sind die ganz einfachen Strukturen und Rituale, die unserem Leben Kraft und Sicherheit geben. Tatsächlich stehen wir fast immer mit dem gleichen Fuß auf, binden immer den rechten oder eben den linken Schuh zuerst, falten die Hände immer in der gewohnten Weise.

Probieren es es doch gleich mal aus. Verschränken Sie Ihre Hände und schauen Sie welcher Daumen oben liegt. Dann nehmen Sie die Hände wieder weit auseinander. Nun verschränken Sie die Hände nochmals – aber mit dem Ziel, dass auf Anhieb der andere Daumen oben liegt. Wie fühlt sich das an? Ungewohnt?

Neulich las ich in einem Artikel über das Leben im Autopilot, dass wir nur 5 Prozent unserer täglichen Entscheidungen bewusst treffen würden. Daher wohl auch das gefügelte Wort, von der Macht der Gewohnheit.

Mit einer Demenzerkrankung gehen gute (und manchmal auch schlechte) Gewohnheiten nach und nach verloren. Das kann beim morgentlichen Gang ins Badezimmer beginnen. Zähneputzen und Körperpflege sind irgendwann nicht mehr gewohnte Routine. Der Gebrauch von Gegenständen, die uns seit Jahren treu dienten, fühlt sich ungewohnt an. Meine Mutter, eine leidenschaftliche Kaffeetrinkerin, vergaß irgendwann die Funktionsweise ihrer Kaffeemaschine.

Sie half sich mit einer italienischen Espressomaschine, mit der sie besser zurecht kam. Einmal servierte sie mir den Kaffee in kristallnen Whisky-Gläsern. Manchmal kam ich zu ihr und der Tisch war für sechs Personen gedeckt. Nur für alle Fälle.

Am Ende war das Ungewöhnliche schon fast das Gewohnte geworden.

Das Risiko ist der Preis der Freiheit

Freiheit ist für unsere Famile, die viele Jahre unter der DDR-Diktatur leben musste, ein hohes Gut. Mir war es wichtig, dass meine Mutter so lange wie möglich in ihrer eigenen Wohnung leben konnte. Die Grenze setzte ich bei für mich erkennbare Selbst- und Fremdgefährdung.

Dazu gehörte für mich, immer einen Blick dafür zu haben, ob sie sicher mit ihrem Herd umgeht. Sie selbst, ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauend, hatte sich angewöhnt, immer mit der Hand zu prüfen, ob denn die richtige Platte ihres Elektroherdes warm wurde, ehe sie einen Topf aufstellte. Zum Glück war sie nie eine große Köchin gewesen und nutzte bald das Angebot eines Mahlzeitendienstes.

Das Zitat Benjamin Franklins lautet eigentlich: Diejenigen, die die Freiheit opfern , um Sicherheit zu gewinnen, werden beides verlieren.

Es gibt keine Sicherheit im Leben. Und schon gar nicht, bei einer Alzheimer-Erkrankung. Demenz heißt Abschied nehmen von Gewohnheiten, von liebgewordenen Traditionen und tatsächlich auch von Sicherheit. Doch ob Demenz Abschied vom erkrankten Menschen bedeutet, dass können wir pflegenden Töchter und Söhne mitentscheiden.

 

Demenz – Abschied vom Optimierungswahn

Längst sind wir als Gesellschaft an einem Punkt angekommen, an dem uns bewusst ist, dass wir die Welt mit der Sucht nach mehr, schneller, größer nicht mehr besser machen. Klimaberichte, Dokumentationen darüber wie unsere Lebensmittel oder Kleidung hergestellt werden und jährlich steigende Burnout-Zahlen zeigen, dass es höchste Zeit ist für einen Paradigmenwechsel.

In meinen Weiterbildungen für Seniorenbegleiter:innen höre ich immer wieder, wie gut es ihnen tut, in der Begleitung von Menschen auch selbst entschleunigen zu können.

Als pflegende Angehörige gelingt mir das übrigens nur, wenn ich nicht versuche, in das Zeitfenster, das zwischen Job, Familie und eigenem Haushalt für die Elternkümmerei bleibt, alles hineinzustopfen. Damit sind nicht nur Sie selbst sondern auch ihr an Demenz erkrankter Angehöriger überfordert.

Das rechte Maß finden

Das ist leicht gesagt. Wer einen Menschen mit Demenz über lange Zeit intensiv betreut wird irgendwann zur Meisterin der Diplomatie, zur Königin der Kompromisse. 

Es finden sich Mittelwege, die für beide Seiten ganbar sind. Demenz ist nicht nur Abschied von der Idee, alles richtig machen zu müssen – es sollte auch Abschied sein, von der Idee alles allein stemmen zu müssen.

Bei meiner Mutter begann es damit, dass der Pflegedienst regelmäßig die Medikamente verabreichte. Da ließ ich nicht mit mir diskutieren, da ein Herzmedikament regelmäßig eingenommen werden musste. Bei anderen Dingen haben wir die Dinge großzügig laufen lassen. Tagespflege lehnte sie ab – viel lieber lief sie mehrmals am Tag ihre „große Runde“ durch die Gärten und ein angrenzendes Waldstück.

Wir fanden eine Frau, die sie manchmal begleitete und bei Regenwetter mit ihr Rummy spielte oder sie zu Festen der Kirchgemeinde begleitete. Der Pflegedienst übernahm zunehmend mehr Aufgaben.

Mir blieben die Einkäufe und kleine Handgriffe im Haushalt – vor allem aber Zeit für einfache Gespräche.

Wir haben viele Dinge, die wir jetzt hätten auch noch machen können verabschiedet oder sie gar nicht erst begonnen. Unser Gewinn war Zufriedenheit und Leben im Hier und Jetzt.

Demenz: Abschied von Oberflächlichkeit

In unserem Alltag mit seinen zahlreichen Anforderungen vermeiden wir es oft, tiefe Gefühle zuzulassen. Kommunikation findet an der Oberfläche statt, was ja durchaus auch Vorteile hat. Denn was ich nicht weiß oder ahne, macht mich nicht heiß. Die Kunst des aktiven Zuhörens nutzen wir nur selten. Niemand von uns ahnt, wie viele wertvolle Gespräche nicht stattgefunden haben, weil wir im Gespräch schon eine Antwort parat hatten, bevor der oder die andere ausgeredet hatte. Seit ich versuche bewusster darauf zu achten, bemerke ich, wie oft ich im Alltag geneigt bin, ein Gespräch mit einer wohlmeinenden Floskel zu beenden: Nimm es dir nicht so zu Herzen. Das wird schon wieder. 

Wie Sie den Zugang zu ihren eigenen Gefühlen entdecken

„Demenz katapultiert die Menschen in ihre Verletzlichkeit.“ Manchmal sage ich so Sachen (zum Beispiel im Interview des Kongresses „Weiterleben-Weiterlieben), mit denen mich meine Kolleginnen noch jahrelang zitieren.

Verletzlichkeit bedeutet: nicht wegzusehen, wenn Gefühle verletzt werden. Es bedeutet, sich selbst zu erlauben, Trauer, Ärger und Schmerz zu fühlen. Und auch danach zu suchen, welches Bedürfnis gerade unerfüllt ist. Bei mir selbst. Und genauso bei  meinem demenzkranken Angehörigen.

Was also passiert bei einer Demenz? Im Verlauf der Erkrankung gehen viele kognitive Fähigkeiten verloren, allem voran Wortfindung und Wortverständnis. Mal abgesehen davon, dass sich jetzt auch das Kommunikationstempo verringert. Oder im Klartext, alle anderen meistens zu schnell sprechen, nich lange genug auf die Antwort der Person mit Demenz warten und zu schnell von einem Thema zum nächsten springen.

Das alles kompensieren Menschen mit Demenz in der Regel, indem sie mehr und mehr auf ihre Gefühle vertrauen. Unvergesslich ist mir folgende Aussage Richard Taylors 

„Wenn Du mich anlügst, dann habe ich Deine Lüge in kurzer Zeit vergessen, denn ich habe Alzheimer. Aber ich habe nicht vergessen, dass die Beziehung zwischen uns nicht stimmt!“

Ich will nicht verschweigen, dass wir in den sechs Jahren, in denen meine Mutter noch zu Hause lebte, auch ganz wundervolle Momente hatten, dass fernab von allen gewohnten Charakterzügen plötzlich eine Verbundenheit möglich war, die ich in unserer Mutter-Tochter-Beziehung ein Leben lang vermisst hatte.

 

Abschied von Berührungsängsten – Hello zu Verbundenheit

Ich wünsche mir, dass sich durch meine Arbeit und die Arbeit vieler Kolleginnen immer mehr Berührungsängste abbauen. Dass es niemandem mehr so ergehen muss, wie jenem Mann, dessen Freunde sagten: „Wir kommen nicht mehr, wir wollen deine Frau in Erinnerung behalten wie sie früher war!“

Demenz-Momente ist eine Blogparade, mit dem Wunsch, dass sich Türen öffnen für ein Leben mit Demenz. Wer könnte das besser sagen als Richard Taylor selbst.

Wirklich (fast) perfekt wäre es, wenn ich es geschafft hätte, das 4-minütige Video mit Richard Taylor hier direkt einzubinden.

Bis dahin gibt es nur diesen Link, der Sie direkt zu Youtube und zu dem eindrucksvollen Video „Don’t say goodbye, say hello“ führt.

Pflegezeit ist Lebenszeit.

Ihre Demenzberaterin

Demenzberaterin Eva Helms