Demenz – anders als Du denkst
Frau Seiler und ihr Mann, der angesehene Kinderarzt Dr. Seiler (alle Namen selbstverständlich geändert) saßen mir in ihrem Wohnzimmer gegenüber. Frau Seiler hatte seit einigen Monaten die Diagnose Demenz und ihrem 70jährigen Mann wuchs die Sache über den Kopf.
Sie war chic wie offensichtlich eh und je und vertuschte charmant ihre Probleme bei der Zubereitung des Kaffees. Er war froh, endlich mal einer Fachfrau sein Leid zu klagen – als Mediziner war er mit seinem Latein am Ende. Und auch das Herz, also seins, nahm die viele Aufregung krumm.
Eine Geschichte über Demenz
„Manchmal“, begann Frau Seiler, „macht mein Mann mir Tabletten in mein Essen, dann geht es mir hinterher immer so schlecht, dass ich mich nur noch ins Bett legen kann.“ Ich sehe, wie Dr. Seiler rot wird. Doch seine Frau ist nicht zu bremsen. „Ich nehme es ihm nicht übel“, sagt sie verständnisvoll. „Früher hatte er immer seine Patienten, jetzt hat er nur noch mich.“
Elegant erhebt sie sich, deutet eine Rührbewegung an. „Neulich habe ich ihn wieder erwischt, die Tabletten hinter dem Rücken! Und als ich nicht hinsah – Schwupps rein in unsere Suppe!“
Dr. Seiler atmet tief durch. Auch wenn klar ist, dass die Geschichte so sicher nicht stattgefunden hat, ist es ihm sichtlich unangenehm. Und ich frage mich, was steckt hinter dieser Geschichte, was will Frau Seiler wirklich erzählen?
Und die andere Geschichte über Demenz
Oder besser gesagt, die Geschichte über die Geschichte:
Aufgrund ihres „jungen“ Alters, Frau Seiler ist 64 Jahre alt, bekam sie die Diagnose FTD-Frontotemporale Demenz. Und ihr Mann hatte sich in diversen Fachmagazinen belesen. Das Vollbild der Erkrankung hatte ihn erschreckt. Und aus seiner Sicht traf alles jetzt schon irgendwie zu!
- Gestörte Impulskontrolle! Sie wollte malen, räumte ihr ganzes Malzeug aus und tat dann – NICHTS!
- Permanente Selbstgefährdung! Sie glaubte tatsächlich, dass sie den Weg zu den Kindern mit S-Bahn und Umsteigen noch selber schaffen würde! In dieser großen Stadt! Dabei ging sie schon mal ins Schlafzimmer, wenn sie eigentlich ins Bad wollte.
- Fremdgefährdung: Das konnte bestimmt auch nicht mehr lange dauern …
Sicher ist sicher, sagte sich der Ehemann. Wenn er jetzt zum Friseur in der Nebenstraße geht, dann muss sie mit und dort im Wartebereich sitzen bleiben, bis der Herr Gemahl fertig ist. „Ich will das gar nicht!“ sagt sie.
„Nein, zu Hause bleiben geht nicht mehr, das haben wir schon versucht, das geht nicht mehr!“ Erstaunt frage ich, was passiert sei. „Naja,“ gibt er etwas kleinlaut zu, „ich hatte ihr eine Liste gemacht, was sie tun soll – und nichts, nichts davon hatte sie gemacht.“
Frau Seiler fängt an zu kichern, meine Mundwinkel zucken und auch Herrn Seiler wird die Absurdität seiner Aussage bewusst.
Am Ende war es für beide ein Weg des Lernens, des Aushandelns. Dr. Seiler lernte zu vertrauen. Er gab seiner Frau Freiheiten, die er vertreten konnte. Die größte Überraschung für ihn war, wie gern sie in die Betreuungsgruppe ging.
Für ihn waren das Nachmittage zum Durchatmen. Dort konnte sie in dem Maße kreativ sein, wie sie wollte – und jederzeit aufhören. Nicht immer auf der Hut zu sein, tat gut. Er musste gar nicht alles alleine schaffen.
Letztendlich waren die vielen positiven Rückmeldungen, die er von den Betreuenden erhielt, auch Anlass die Diagnose überprüfen zu lassen. Denn auch Ärzte können irren.
Demenz ist anders – die Erkenntnisse
Vielleicht ist diese Geschichte von den Tabletten im Essen, die sie ans Bett fesseln, eigentlich die Geschichte über den Ehemann, der ihr aus Sorge keinen Freiraum mehr ließ.
Auf alle Fälle – soviel stellten wir im Laufe der Beratungen, die wir über viele Jahre immer wieder hatten, ist es eine Geschichte darüber,
- … dass Menschen mit Demenz ihre Wahrheiten zuweilen bewusst oder unbewusst in Geschichten verpacken, die wir entschlüsseln können.
- … dass der Beginn einer Erkrankung noch lange nicht das Vollbild der Erkrankung ist.
- …dass der Verlauf einer Demenz von den ersten Anzeichen bis zur letzten Phase der Erkrankung ein langer Prozess ist. Darüber habe ich in diesem Artikel geschrieben.
- … dass auch Ärzte irren können und man auch nach einer fachgerechten Diagnostik immer noch seinen Beobachtungen vertrauen sollte als – tatsächlich hatte die Frau keine FTD, sondern eine früh beginnende Alzheimer-Erkrankung.
- … dass Angehörige verstehen müssen, dass der Mensch mit Demenz weiterhin selbstbestimmt leben möchte.
- … dass es für Betroffenen und Angehörige nicht leicht ist, ein Ehe- oder Liebespaar zu bleiben anstelle in eine Pflege-Beziehung zu geraten. Dazu gibt’s übrigens ein ganzes Kapitel in meinem Buch „Es ist nicht alles Demenz“
- … dass es man auch mal alle Fünfe gerade sein lassen darf – und nichts passiert.
- … dass auch Angehörige auf ihre Gesundheit achten müssen – im eigenen Interesse und nicht zuletzt auch im Interesse des Menschen mit Demenz.
Ich trau mich was
Im Übrigen ist das hier auch eine Geschichte über meinen ersten Versuch, bei einer Blogparade mitzumachen. Eingeladen zur Blogparade Demenzmomente bin ich von Peggy Elfmann, der Bloggerin von Alzheimerundwir und von Journalistin und Mutmacherin Tanja Neuburger.
Warum die beiden Journalistinnen ihre Seite „die-sind-doch-alle-verrückt“ genannt haben, verstehe ich allerdings nicht. Menschen mit Demenz sind nicht verrückt, nur anders.
Was könnte jedenfalls ein schönerer Start für eine Blogparade sein als der Welt-Alzheimer-Tag am 21.09.? In 12 Monaten gibt es 12 Themen. Also Geschichten dafür habe ich genug!
Liebe Eva,
das hast du schön und verständlich geschrieben. Interessanterweise habe mich nie gefragt, warum Tanja ihren Blog so genannt hat. Im Gegenteil, ich fand ihn sehr gelungen gewählt, weil ich davon ausgehe, dass dies ein klassisches Vorurteil ist, welches einem im Umgang mit Demenz häufig begegnet.
Liebe Antje, ja das ist ein klassisches Vorurteil aus dem letzten Jahrhundert, das gehört ausgeräumt. Aber das tun wir ja gerade 👍 Viele liebe Grüße, Eva