Entstehung des Modells der Person-zentrierten Arbeit
Der englische Sozialpsychologe Tom Kitwood (1937 – 1998) entwickelte in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts den person-zentrierten Ansatz zum Umgang mit Menschen mit Demenz, der heute zum Expertenstandard des Umgangs mit Menschen mit Demenz gehört.
Ausgangspunkt für seine Arbeit war die Erfahrung des Umgangs mit demenzkranken Menschen, der von Zwang, entpersonalisierendem Verhalten und mangelnder Wertschätzung geprägt war.
Seine Beschreibung der Zustände richtete sich dabei nicht (nur) gegen die so handelnden Pflegekräfte, vielmehr war ihm bewusst, dass die Rahmenbedingungen geändert werden mussten.
Auch in Deutschland war die „Satt-Sauber-Still-Pflege“ ein Begriff. Menschen mit Demenz waren zwar Objekte der Fürsorge – als Individuen mit ihren Eigenarten, Gefühlen und Bedürfnissen wurden sie nicht gesehen. Das sollte sich mit dem person-zentrierten Ansatz ändern.

Mit der Theorie der Grundbedürfnisse und der positiven Interaktionen schuf Tom Kitwood einen Ansatz, der nicht nur in der Begleitung von Menschen mit Demenz hilfreich ist, sondern zugleich als Tool zur Vermeidung von herausforderndem Verhalten genutzt werden kann.

Fünf Grundbedürfnisse – plus Eins
Üblicherweise werden die Grundbedürfnisse in Form einer stilisierten Blüte mit beschrifteten Blütenblättern dargestellt, der sogenannten Kitwoodblume.
- Trost/Geborgenheit
- Identität
- Einbeziehung
- Bedeutsame Beziehungen
=
- Liebe
Als Zeitgenosse von Abraham Maslow, dem Begründer der Bedürfnis-Pyramide, entwickelte Tom Kitwood seine Bedürfnis-Blume anhand von Bedürfnissen, die für Menschen mit Demenz essentiell sind, aber im Verlauf der Erkrankung immer häufiger durch andere Menschen erfüllt werden müssen.
Trost/Geborgenheit
Das von Tom Kitwood verwendete englische Wort kann sowohl Trost, als auch Geborgenheit oder Wohlbehagen bedeuten. Der Mensch mit Demenz braucht also eine Umgebung die ihm liebevoll zugewandt ist.
Es gibt viel zu trösten, wenn ein Mensch seine Erinnerungen verliert, wenn er sein Zuhause verlassen muss, um in einer Pflege-Einrichtung zu leben oder auch wenn durch die zeitliche Desorientierung schmerzhafte Erinnerungen zum Beispiel aus einer Kriegs- oder Vertreibungsbiografie wieder präsent werden.
Frau Ernst (alle Namen sind natürlich wieder geändert) hatte als 12jährige ihre sudetendeutsche Heimat verlassen müssen. In der DDR, in der sie nach der Vertreibung lebte, wurde das durch die Vertreibung entstandene Unrecht totgeschwiegen. Erst durch die Demenz konnte der Verlust des Elternhauses und der Heimat von Frau Ernst betrauert werden. Was sie brauchte, wenn sie wieder und wieder vom verlorenen Elternhaus erzählte, waren Menschen, die geduldig zuhörten und ihre Trauer anerkannten.
Identität
Unsere Lebensgeschichte, wer wir waren als Kind, Jugendlicher, Erwachsenen waren und wer wir aktuell in Beziehung zu unseren Mitmenschen sind, prägt unsere Identität. Wenn immer mehr Erinnerungen eines Menschen mit Demenz verschwinden, braucht er in seinem Umfeld Menschen, die ihn wieder mit seiner eigenen Lebensgeschichte in Kontakt bringen.
Biografie-Arbeit ist ein großes Wort, dass nach langer Geschichte und nach Arbeit klingt. Dabei können es auch die ganz kleinen Gesten sein, die Menschen mit Demenz wieder an die eigene Geschichte erinnern.
Manchmal reicht ein „guten Morgen, Frau Meier. Sie sehen heute wieder so schick aus. Kein Wunder, sie waren ja auch die beste Schneiderin der Stadt!“ Es hat keine Minute gedauert, die Frau – quasi nebenbei und ohne belehrend zu wirken – wieder mit ihrer Biografie in Kontakt zu bringen.
Einbeziehung
Kooperation und soziale Partizipation sind Grundbedürfnisse des Menschen, die sich bereits im Kindesalter herausgebildet haben. Die Zugehörigkeit zu einer oder mehreren Gruppen gibt dem Menschen Sicherheit. Andererseits erleben Menschen mit Demenz immer wieder, dass von anderen Menschen darüber entschieden wird, was gut für sie ist, ohne dass sie selbst dabei einbezogen wurden.
Frau Weismantel hatte als junge Frau, bis zur Enteignung in den 60er Jahren der DDR, den kleinen Betrieb ihrer Eltern geleitet. Im Pflegeheim fand sie zunächst keinen Zugang zu den anderen Bewohnerinnen des Wohnbereiches und auch den Pflegekräften gegenüber verhielt sie sich abweisend. Es zeigte sich, dass sie trotz ihrer schroffen Haltung unglücklich war. Eine langsame Besserung erreichten wir, als die Wohnbereichtsleiterin begann, Frau Weismantel immer wieder um ihren Rat zu fragen. Wie viele Kuchen mögen wohl zum Sommerfest ausreichend sein? Was kann wohl machen, wenn so viele Mitarbeiter*innen gleichzeitig in den Ferien Urlaub nehmen möchten? Frau Weismantel fühlte sich wertgeschätzt und fand sich immer besser in die Gruppe der Bewohnerinnen ein.
Primäre Bindung
Menschen mit Demenz sind vielfältigen Stress- und Belastungssituationen ausgeliefert, sie verstehen ihre innere und die sie umgebene äußere Welt häufig nicht mehr. Es ist anzunehmen, dass durch dieses „nicht verstehen“ das Verlangen nach Sicherheit, nach primärer Bindung, in ähnlicher Intensität hervortritt wie bei Kindern (Kitwood 2004, 123). Mit Bezugspflege versuchen Einrichtungen dem Bedürfnis nach einer vertrauensvollen Beziehung gerecht zu werden. Dies tut sowohl den Pflegenden als auch den Menschen mit Demenz gut. In erster Linie sehnt sich der Mensch mit Demenz jedoch nach einer Person, zu der er eine exklusive Beziehung aufbauen kann – also eine Person aus dem Familien- oder nahen Freundeskreis.
Frau Sonntag sehnte ich nach dem Besuch ihres Sohnes. Dem Einzug ins Pflegeheim stimmt sie zu, da er mit einem Umzug in den Wohnort des Sohnes verbunden war. Leider konnte der Sohn mit der fortschreitenden Demenz der Mutter nicht umgehen. Und obwohl die Schwiegertochter regelmäßig kam, blieb das Bedürfnis nach primärer Bindung unerfüllt.
Beschäftigung
Hierbei geht es im person-zentrierten Ansatz nicht um das bloße Aktiviert werden. Vielmehr ist eine Tätigkeit gemeint, durch die der Mensch sich selbst als bedeutsam erlebt. Auch Menschen mit Demenz möchten immer noch für andere Personen hilfreich sein.
Eine alte Dame, die ihr Leben lang für Kinder und Enkel strickte, war unglücklich darüber, dass ihr nun gar nichts mehr glückte. Darauf brachten ihr die Pflegerinnen immer wieder halbfertige, misslungene Strickprojekte aus dem Bekanntenkreis mit, die die Frau sorgfältig auftrennte. Sie war zufrieden, nun wieder eine sinnvolle Aufgabe zu haben, der sie gewachsen war.
Liebe
Die Liebe im Zentrum der Bedürfnisse wird von Tom Kitwood als „allumfassendes Bedürfnis“ beschrieben. Es geht um eine „großzügige, verzeihende und bedingungslose Annahme, ein emotionales Geben von ganzem Herzen.“ (Kitwood 2004, S. 121) Im Zentrum der Bedürfnisse steht somit die Bindung zu Menschen, die mit ihrer Haltung der Wertschätzung, der Empathie und ihrer eigenen Authentizität einen geschützten Raum geben und halten.
Zusammenwirken der Grundbedürfnisse
Diese Grundbedürfnisse sind miteinander verwoben, schwer voneinander abgrenzbar und bedingen sich gegenseitig. Und genau diese Tatsache macht den person-zentrierten Ansatz so wertvoll. Denn es scheint, als ob die Unerfüllbarkeit eines Bedürfnisses durch ein Mehr bei den anderen Bedürfnissen kompensiert werden könne.

Was das Personsein stärkt – 12 positive Interaktionen
Um den Pflegenden einen Leitfaden für eine bessere Beziehungsgestaltung zu geben, definierte Tom Kitwood eine Reihe von positiven Interaktionen. Diese Umgangstipps sind so einfach wie ein Kochrezept. Man nehme … Alle diese Aktionen sind leicht umsetzbar, quasi kostenfrei und geeignet, die Grundbedürfnisse von Menschen mit Demenz besser zu erfüllen.
Anerkennung – Zeigen Sie Anerkennung auch für kleine Dinge im Alltag. Und vor allem: Sprechen Sie es aus. Immer wieder!
Verhandeln – Verhandlung gibt dem Gegenüber das Gefühl mitbestimmen zu können – nicht machtlos zu sein. Den roten Pullover oder den blauen? Weißbrot oder Schwarzbrot? Überlassen Sie kleine Entscheidungen der Person mit Demenz – und geben Sie ihr Zeit genug, die Entscheidung zu treffen.
Zusammen arbeiten – Tun Sie Dinge gemeinsam. Das können pflegerische Handlungen sein, in den Sie den Demenzkranken einbeziehen. Oder lassen Sie sich bei hauswirtschaftlichen Tätigkeiten unterstützen.
Spielen – Hier geht es um zweckfreie Tätigkeiten, aber auch um spielerische Begegnungen. Ich beobachtete, wie ein Heimleiter eine Bewohnerin (Frau König) stets mit Frau Königin ansprach, worauf sie sich stets mit einem „Herr Professor“ revanchierte.
Sinneserfahrungen – Viele Menschen mögen bestimmte Sinneserfahrungen sehr gern, andere gar nicht. Dazu gehören Massagen, sanfte Musik, verschiedene Düfte, Wärme- oder Kältereize. Finden Sie heraus, welche Person was besonders mag – und verschonen Sie empfindsame Menschen mit dem vollen Programm, wenn es für sie eine Reizüberflutung bedeutet. Bei Kitwood heißt dieser Punkt übrigens „Timalation“.
Feiern – Die meisten Menschen lieben Feiern, denn sie verbinden das mit Lebensfreude, mit Wohlergehen und Sicherheit. Mit leckerem Essen und dem Gefühl etwas geschafft zu haben.
Entspannen – Einfach mal nichts tun. Wir müssen nicht ständig etwas machen. Auch Langeweile darf ihren Platz im Alltag haben. Erinnern Sie sich an Loriot? „Ich will einfach nur sitzen …“
Validation – Unter Validation versteht man das empathische Anerkennen der Gefühle des Gegenüber. Dazu muss es unbedingt mal einen eigenen Blogbeitrag geben!
Halten – Halten meint auch Aushalten. Die Pflegeperson hält es mit der Person mit Demenz gemeinsam aus, dass verschiedene Dinge nicht mehr zu ändern sind. Es bedeutet präsent zu bleiben (nicht der Versuchung der schnellen Ablenkung zu erliegen) und den emotionalen Schmerz mitzutragen. Geteiltes Leid ist halbes Leid.
Erleichtern – Wenn ein Mensch eine bestimmte Tätigkeit nicht mehr kann, dann ist es manchmal nur ein Detail, das Schwierigkeiten bereitet. Finden Sie heraus, was es ist und unterstützen Sie punktuell – so dass der Betroffene weiterhin selbst zum Ergebnis kommen kann.
Schöpferisch sein – Nein, es geht nicht um Bastelnachmittage! Schöpferisch sein meint, Menschen die Gelegenheit zu geben, sich mit ihren Ideen und Fähigkeiten einzubringen. Vielen Menschen macht das Singen oder Tanzen große Freude. Aber auch ein gefaltetes Stück Papier oder ein Hagebuttenzweig der nun auf dem Tisch liegt, sind Ausdruck der Kreativität des Menschen.
Geben – Lassen Sie zu, dass der Mensch mit Demenz zum Gebenden wird: Sei es ein Kompliment, ein Hilfsangebot oder ein kleines Geschenk.
So, jetzt sind Sie dran, finden Sie ihren persönlichen Potpourri an Interaktionen. Und schreiben Sie mir gerne von Ihren Erfahrungen.
P.S. Falls Sie mehr darüber lesen wollen, dann empfehle ich das Original aus dem Hogrefe-Verlag.
Oder Sie warten auf das Erscheinen meines zweiten Buches „Kitwood für Einsteiger“ im nächsten September.
Bis dahin finden Sie viele interessante Tipps und Praxisbeispiele in meinem Newsletter.
Pflegezeit ist Lebenszeit.
Ihre Demenzberaterin

Liebe Eva, schön, berührend und logisch, weil es einfach so alles zum Mensch-Sein gehört. Gesehen werden. Gehört-Werden. Ernstgenommen. In Verbindung sein. Geliebt. In Sicherheit. Lebensfreude.
Je mehr wir aus „normalen“ Lebensentwürfen herausfallen, je mehr fühlen und sehen wir diese Lebensbedürfnisse, die so oft vergessen werden. Danke auch für die Anregungen und deine Arbeit. Herzlich, Anne (als SEHHELDIN)
Liebe Anne, herzlichen Dank. Verletzlichkeit ist im Lebensentwurf der meisten Menschen offenbar nicht vorgesehen. Im Prinzip sind es ja keine besonderen Bedürfnisse, um die es geht, sondern sehr menschliche. Es schwindet der Grad der Fähigkeit, sich diese Bedürfnisse selbst zu erfüllen. Wo sich jemand nicht mehr sicher fühlt, kommt Angst. Menschen, die nicht gesehen oder nicht gehört werden, werden wütend.
Leider kommen Ärzte und Pfleger bei diesem „herausforderndem Verhalten“ viel eher auf die Idee, ein Medikament zu verabreichen, als die Ursachen herauszufinden und die Situation zu verändern.
Danke dafür, dass Du mich immer wieder zur Reflexion anregst. Eva
Eva, gerne – dito. Ich erlebe dies auch bei meiner Augenkrankheit: Selbst Psychologinnen sehen oft nicht, hören nicht zu, sondern suchen sofort nach Lösungen. Das macht klein, wir bleiben ungesehen, Ängste werden größer. Aus meiner Sicht ist das geboren aus der Hilflosigkeit der Begleiterinnen (ich nenne das unprofessionell) und oft auch aus den Beengungen durch das System. (Trauer als „Krankheit“ zu definieren), nur Budget bekommen, wenn eine „Lösung“ gegeben wurde. (Ich habe schon gefragt: Ist es denn keine Lösung, wenn ich mich stark und glücklich fühle?). Ich glaube, die Welt sucht immer mehr nach unserem Blick auf uns und Menschen. Populäre Forscherinnen wie Brene Brown helfen…Herzlich, Anne
Liebe Anne, Brené Brown lese/höre ich auch sehr gern und immer wieder. Es ist ein bisschen wie das „Schärfen der Säge“. Auch trotz humanistischem Menschenbild und systemischer Ausrichtung fällt es mir manchmal schwer, in der suchenden Haltung von Nicht-Wissen und Multiparteilichkeit zu bleiben, gerade wenn man als Beraterin das Gefühl hat, eine deutliche Lösung zu sehen. Naja, Geduld ist halt die Königs- oder Königinnendisziplin 🙂 Schönen Sonntag, Eva
Eva, gerne – dito. Ich erlebe dies auch bei meiner Augenkrankheit: Selbst Psychologinnen sehen oft nicht, hören nicht zu, sondern suchen sofort nach Lösungen. Das macht klein, wir bleiben ungesehen, Ängste werden größer. Aus meiner Sicht ist das geboren aus der Hilflosigkeit der Begleiterinnen (ich nenne das unprofessionell) und oft auch aus den Beengungen durch das System. (Trauer als „Krankheit“ zu definieren), nur Budget bekommen, wenn eine „Lösung“ gegeben wurde. (Ich habe schon gefragt: Ist es denn keine Lösung, wenn ich mich stark und glücklich fühle?). Ich glaube, die Welt sucht immer mehr nach unserem Blick auf uns und Menschen. Populäre Forscherinnen wie Brene Brown helfen…Herzlich, Anne